Gesten barocker Figuren haben oft eine ganz bestimmte Bedeutung

Sprechende Hände

AUGSBURG – Theatralisch gespreizte Finger, die im Verhältnis zur ganzen Skulptur oft viel zu groß sind – so präsentieren sich viele barocke Heiligenfiguren. Dass dies nicht bloß eine Mode-
erscheinung war, sondern dass man dabei von „Sprechenden Händen“ ausgehen muss, legte die Augsburger Kunsthistorikerin Gertrud Roth-Bojadzhiev in einer Veranstaltung der Katholischen Erwachsenenbildung dar.

Zunächst erläuterte die Expertin die „Gesten in der Kunst des Barock“ in einem Online-Vortrag. Tags darauf stellte sie einer großen Zahl Interessierter die acht erhaltenen Apostelfiguren von Ehrgott Bernhard Bendl (1660 bis 1738) in der Augsburger Innenstadtkirche
St. Moritz vor.

Die Fähigkeit, Hände anatomisch korrekt malen oder plastisch gestalten zu können, geht mit der anatomischen Forschung in der Frühen Neuzeit einher, machte die Referentin deutlich. Als Beispiel führte sie den flämischen Arzt Andreas Vesalius (1514 bis 1564) an, der öffentliche Sektionen durchführte und unter anderem anatomische Flugblätter für Studenten herausbrachte. 

Einen bedeutenden Einfluss auf die Kunst hatte auch das 1644 erschienene Buch „Chirologia“ des englischen Arztes John Bulwer (1606 bis 1656), der sich darin mit der Sprache der Hände auseinandersetzt. Bulwer nahm fälschlicherweise an, dass Gesten auf der ganzen Welt die gleiche Bedeutung haben, und fasste sie in Tabellen zusammen.

Gertrud Roth-Bojadzhiev erklärte, dass viele der von Bulwer kategorisierten Gesten in Bildern und Plastiken des Barock wiederzufinden sind. Durch deren Einsatz konnten die Künstler die Betrachter zur Zwiesprache mit ihrem Kunstwerk bringen. Die Menschen sollten belehrt, erfreut, zu einem gesteigerten Einfühlen bewegt und so letztlich in ihrem Glauben gestärkt werden. 

Nicht nur, dass vier der von Bendl geschaffenen Apostelfiguren verlorengingen – die ursprünglich farblich gefassten, übermannsgroßen Skulpturen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg auch noch abgelaugt. Sie seien deshalb in ihrer Aussage beeinträchtigt. So könne man zum Beispiel nur erahnen, wohin ihr Blick einst ging, erläuterte die Kunsthistorikerin. „Sie sind eigentlich unfertig, aber sie entsprechen dem zeitgenössischen Sinn für elementare Materialien.“ 

Gelungen findet die Kirchenführerin, dass der Designer John Paw-
son die Skulpturen, die ursprünglich hoch oben im Kirchenschiff in einer Nische platziert waren, heruntergeholt und auf einen Sockel gestellt hat. Nun könne man ihre Dreiviertelansicht voll erfassen. 

Dynamische Haltung

Die Figur des Apostels Philippus hinten im südlichen Seitenschiff fällt durch ihre dynamische Schrittstellung auf. Ihre Hände – wie auch die der anderen Apostel – sind überdimensionert. Zeigefinger und Daumen deuten geradeaus, die anderen drei Finger sind zurückgebogen. Diese Geste will sagen: „Ich verweise auf etwas, was du bedenken kannst.“ 

Bei der letzten Figur in dieser Apostelreihe stimmt etwas nicht, wie die Kunsthistorikerin unter anderem auch an ihrer Hand ablesen kann. Ihre hoch erhobene Hand macht eine Geste, die dem modernen Victory-Zeichen ähnelt. Einst war dies die Geste eines Feldherrn, der seine Rede beginnen will. Diese Handhaltung hatte der barocke Bildhauer einem Christus Salvator zugedacht. Eine misslungene Umgestaltung nach dem Krieg machte aus dem Christus einen Paulus, indem man ihm die Weltkugel aus der Hand nahm und ihn stattdessen mit einem Schwert versah.

Der Apostel Andreas im nördliche Seitenschiff hält den Daumen, den Zeigefinger und den kleinen Finger leicht gestreckt, während der Ringfinger und der Mittelfinger zurückgebogen sind. Damit deutet der Bildhauer an: Der Apostel spricht in der Weise des Dichterkreises der Neoteriker, nämlich kurz und knapp. 

Bei der Figur des Apostels Jakobus minor, der letzten der von Gertrud Roth-Bojadzhiev vorgestellten Figuren, findet sich der zur rechten Seite ausgestreckte Daumen und Zeigefinger mit den drei zurückgebogenen restlichen Fingern: Die Geste zum Ansetzen einer Kommunikation.

Gerhard Buck

26.08.2023 - Bistum Augsburg